29.6.07

Am Ende eines langen Weges

Wenn man als Jäger ein Revier am Wohnsitz betreut, kann man die Freuden der Jagd besonders intensiv genießen.

Aber zur Revierbetreuung gehören auch Arbeiten, bei denen man mit dem Leid der Tiere konfrontiert wird und die dem revierlosen Jagdgast oft erspart bleiben. Das Bergen von Wild, das bei Verkehrsunfällen zu Tode kam, gehört ebenso dazu, wie das Erlösen von krankem Wild mittels Fangschuss, zu dem man als Revierbetreuer von den Anwohnern oder Verkehrsteilnehmern gerufen wird.

Dieses Antragen des Fangschusses zum Beenden des Leidens hinterlässt bei jedem Jäger, auch wenn er schon viele Jahre die Jagd ausübt, seine Spuren und regt zum Nachdenken an.

Diese Gedanken hat ein Revierbetreuer in einem Bericht zusammengefasst und sie spiegeln das Erlebte und die Gedanken eines Jägers wieder.

Der Autor ist Moderator des Jagdforums wild-web.net

waidmannsheil

Euer

stefan


Wer einen weiten Weg zurückgelegt hat, hat vieles erlebt.

von Axel Roth

Die alte Ricke, der ich gestern einen Fangschuss antragen musste, könnte sicher viel erzählen, wenn sie gefragt würde. Als Kitz hatte sie ein sorgloses Leben. Aufgewachsen in einem grünen Paradies, mit viel Äsung und Deckung, und Mutter war immer in ihrer Nähe und passte auf sie auf.
Irgendwann kreuzten attraktive Böcke ihren Weg und die Verbindung zur Mutter wurde immer lockerer. Als sich dann der erste Nachwuchs einstellte, sah sie ihre Mutter nur noch selten, aber die Verbindung riss trotzdem nie ganz ab, bis Mutter irgendwann nicht mehr war.


Die Jahre vergingen, die Ricke schenkte noch vielen Kitzen das Leben und sorgte für sie so gut, wie es ihre Mutter für sie selber tat. Sie erlebte manche Stürme und harten Winter. Sie hat sicher auch noch den alten Pächter gekannt, der mittlerweile schon seit Jahren nicht mehr ist.


Als sie älter wurde, machten jüngere Damen ihr ihr schönes Revier streitig und verdrängten sie in die Nähe der menschlichen Siedlung. Aber dort konnte man es gut aushalten. Man musste sich nur ein „dickeres Fell" zulegen und seine Grundangst vor den Menschen überwinden. Die Menschen sorgten gut für die Ricke. Sie legten viele Gärten mit Sträuchern und leckeren Blumen an, wo es sich gut leben ließ. So ergab sich ein hervorragender, großer Einstand auf sicher 4 oder 5 Hektar, den keine andere Ricke ihr streitig machen wollte.


Mit zunehmendem Alter zeigte der Körper Alterserscheinungen. Jede Bewegung schmerzte. Das Kauen fiel schwerer, da die Zähne glatt geschliffen waren. Im rechten Unterkiefer stellten sich irgendwann Zahnschmerzen ein. Zunächst nur sporadisch, später dauerhaft und immer schlimmer. Äsungsreste setzten sich unter die Zahnwurzel und verursachten schließlich höllische Schmerzen. Der Wechsel vom Winter- zum Sommerhaar erforderte Kraft, die bei der alten Ricke nicht mehr ausreichte, die juckenden Haarreste gänzlich abzustreifen. Einsamkeit stellte sich ein. Nicht mal ein alter Bock zeigte mehr Interesse an ihr. In ihrem Einstand, dem selbst gewählten Alters-Ruhesitz, nah bei den Menschen, schon mal erst Recht nicht.

Auf der Flucht vor aufdringlichen Menschen, die ihre ach so schönen Tulpen verteidigten und deshalb von Zeit zu Zeit einen Stein oder Stock nach ihr warfen, zog sie sich wohl vor einiger Zeit einen Leistenbruch zu, der dazu führte, dass sich ein faustgroßes Darmstück unter die Decke drückte. Seitdem war sie permanent geplagt von Bauchschmerzen und Durchfall. Auf ihrem Haupt entwickelten sich Wucherungen, was sie bisher nicht erlebte und kannte. Im Rachenraum quälten sie zusätzlich zahlreiche Maden.
Ihr Aktionsradius wurde geringer und beschränkte sich schließlich auf einige wenige Hausgärten. Schließlich wurden die Schmerzen unerträglich und die alte Ricke tat sich an einem schönen, sonnigen Plätzchen nieder, erhöht in einem terrassenförmigen Garten, mit einem weiten Blick über den Ort der menschlichen Siedlung. Ob sie sich wohl an ihr früheres Leben erinnert hat?

Ein Anruf des Gartenbesitzers bei mir läutete dann das Ende einer längeren Leidenszeit ein. Die alte Ricke ließ mich auf kürzeste Distanz an sich herankommen. Der Wille und die Kraft zur Flucht waren gebrochen. Ihr Blick schien zu sagen: Mach bitte ein schnelles Ende. Den Schuss quittierte sie – man könnte meinen – dankbar. Sie fiel zur Seite ohne ein einziges Aufbäumen. Das Leiden hatte ein jähes Ende gefunden. Kurz, und schmerzlos.
Sie war nun erlöst. Mich hat das Erlebnis sehr nachdenklich gemacht.

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