16.9.14

Trophäen sind Erinnerungen - auch für Nichtjäger

Nach über 60 Jahren kehrt das Geweih eines besonderen Kronenhirsches wieder in sein Revier zurück

 „Erleger Fritz Hahn, Rheinfelden, Revier Schönau i. Schwarzwald, 30.11.52."

Wer einmal in einer Dorfkneipe auf dem Land den Bauern zuhören durfte, wenn sie Geschichten über die Jagd erzählen, der weiß, dass jedes Dorf seine eigenen Geschichten über seine ehemaligen Jagdpächter hat. Und wenn dann diese Jagdpächter über mehrere Jagdperioden die Jagd gepachtet hatten, zudem jagdliche Originale waren, kommt da einiges an kuriosen Geschichten zusammen.
Es ist die Naturverbundenheit und die Geselligkeit, die die Dorfbevölkerung am oft aus der Stadt am Wochenende anreisenden Jagdpächter zu schätzen weiß. Zudem sind die oft zahlreichen Jagdgäste ob ihrer Trinkfreudigkeit und Großzügigkeit immer gern gesehene Gäste im Dorfkrug.

Dies war auch viele Jahre nach dem Krieg in Schönau im Scharzwald nicht anders. Dort hatte vor über 60 Jahren ein Jagdpächter einen kapitalen Hirsch erlegt, was auch in dieser Gegend etwas ganz besonderes war und seither nicht wieder vor kam. Jahrzehnte irrte die Trophäe, nachdem sie das Jagdzimmer des Erlegers geschmückt hatte, durch Deutschland. Doch nach vielen Jahrzehnten kam der Enkelin des Jagdpächters auf die Idee, die kapitale Trophäe wieder dort hin zu bringen, wo sie eigentlich hin gehört: In das Revier des Opas in Schönau im Schwarzwald.

Schell wurde aus der feierlichen Rückführung des Hirschgeweihs eine große Familienfeier, die so schnell niemand im Dorf vergessen wird. Und so hinterlässt der Jagdpächter und Erleger des Kronenhirsches auch nach über 60 Jahre nach der Erlegung nochmals seine Spur in dem Revier, das er so geliebt hatte.

Von einer feierlichen Trophäenübergabe mit viel Erinnerungen berichtet Sabine Przewolka auf ihrem regionalen (schwarzwälder) Onlinemagazin "Kuckuck":

Feierliche Übergabe des Hirschgeweihs an die Gemeinde Schönau/Schwarzwald zur Erinnerung an ihren Jagdpächter Fritz Hahn

Der Kronenhirsch kommt zurück in sein Tunauer Revier

Sabine Przewolka

Und dann taucht plötzlich dieses Gefühl auf, dass sich hier auf dieser Welt tatsächlich alles mit allem verbindet. Immer wieder gibt es an diesem Nachmittag diesen erstaunten Augenaufschlag, der diese Erkenntnis widerspiegelt. Hans Seger steht vor seinem Haus in Tunau und zeigt in diese wunderschöne Natur des Schwarzwaldes, auf die sattgrünen Hänge gegenüber mit Gebüsch, dunklen Tannen und dazu strahlend blauem Himmel. Natur pur. Und eine 89-jährige Dame sagt dazu nachdenklich: „Ich habe mich meinem geliebten Vater den ganzen Tag über so nah gefühlt...“ Sie heißt Rosemarie Przewolka, Tochter von Fritz Hahn und macht heute mit einem Teil ihrer Familie und einem kapitalen Hirschgeweih einen Ausflug in ihre Kindheit nach Tunau, einem Ortsteil von Schönau.

Ihr Vater Fritz Hahn pachtete über vier Jahrzehnte die Jagd in Schönau und Tunau, damals ein riesiges Revier mit 1300 Hektar Fläche. Der Betriebsingenieur bei Dynamit Nobel in Rheinfelden fuhr übers Wochenende fast immer nach Tunau, um bei der Jagd und im Hause der Segers zu entspannen. Hans Seger begleitete den passionierten Jäger in Wald und Flur schon als Kind - wie zuvor schon sein gleichnamiger Vater Johann, auch  kurz  "Hans" genannt. Und so bekam der damals 18-jährige auch hautnah die Sensation mit, als Fritz Hahn 1952 den ersten Rothirsch in der Region, einen kapitalen Kronenhirsch mit ungeraden 16 Enden, während einer Drückjagd erlegte. Genau an der Stelle, wo Fritz Hahn auf den Rothirsch ansaß, erschien er plötzlich. „Ich war der erste beim Hirsch“, leuchten wie damals die Augen des heute 80-jährigen Hans Segers - und immer noch mit Leib und Seele aktiven Jägers. Er habe Fritz Hahn, der bei ihm großes Ansehen genoss, diese außergewöhnliche Trophäe von Herzen gegönnt, erzählt er weiter. Der sogenannte „Kronenhirsch“ sei bis heute einmalig  gewesen. Niemals wieder sollte so ein kapitaler Hirsch auf der Gemarkung geschossen werden.

Heute kehrt der Rothirsch – oder besser gesagt nur sein stolzer Kopfschmuck - in sein ehemaliges Revier zurück. Und damit leben auch die Bilder in den Köpfen der Menschen wieder auf, die damals dieses Ereignis miterlebten. „Ich komme aus Schönau“, sagt Uli Lochar – mein Co-Autor im Onlinemagazin „kuckuck“ (Homepage: www.kuckuck.biz). Meine prompte Antwort zeigt, wie klein doch diese riesige Welt in Wahrheit ist: „Oh, so ein Zufall, mein Opa hatte dort seine Jagd“. Denn der Blick fiel beim Ausruhen auf Omas altem Biedermeier-Sofa schon oft auf Opas Hirschgeweih mit einem silbernen Schildchen und brannte sich so förmlich ein: „Erleger Fritz Hahn, Rheinfelden, Revier Schönau i. Schwarzwald, 30.11.52.“  Beides heute im Wohnzimmer der Enkelin Sabine Przewolka gelandet -  als Andenken an die Vorfahren.  Beim nächsten Besuch in Schönau fädelt Uli Lochar diese Reise in die Vergangenheit ein, weil er merkt, dass der Name Fritz Hahn in Tunau noch in guter Erinnerung ist. Uli Lochar wuchs in Schönau auf, ging dort zur Schule und obwohl er seit über 30 Jahren in Villingen wohnt, pflegt er noch viele Kontakte ins Obere Wiesental. Der ideale Organisator für so ein außergewöhnliches Treffen!

Manche Menschen hinterlassen eben Spuren. Fritz Hahn fiel das schon körperlich nicht schwer, weil er über eine gewisse Leibesfülle verfügte. Ein Genussmensch, der Gemütlichkeit ausstrahlte. Die Menschen in Tunau bringen ihm und seinem Andenken auch über 65 Jahre später noch den größten Respekt entgegen, vor allem wegen seiner guten Charaktereigenschaften. „Er war absolut korrekt“, erinnert  sich Hans Seger. Er saß oft im Gasthaus „Hirschen“ in Präg oder im Gasthaus „Tanne“ in Tunau, um gemütlich am Stammtisch die Jagd ausklingen zu lassen. Durch seine verlässliche Miete sicherte er der Witwe Josefine Seger, die Tante von Hans und Schwester seiner Mutter, das Überleben in der kargen Nachkriegszeit mit ihren drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tocjhter. Denn Josefines Mann und Onkel von Hans, fiel 1944 im Krieg. Ein Geben und Nehmen für beide Seiten. Eine fröhliche Gemeinschaft Menschen im Alter von elf bis 89 Jahren aus den Familien Seger, Lochar,  Przewolka und Michna fällt sich da am Sonntag, 15. Juni, vor dem Gasthaus „Tanne“ in Tunau  in die Arme. Die meisten kennen den anderen nicht wirklich. Sondern alle wissen nur, dass sie irgendwie mit dem Rothirschgeweih in der Mitte, aufgestellt zum Erinnerungsfoto, miteinander verbunden sind.

Das genügt vollkommen, um einen Nachmittag voller Freundschaft und bunter Geschichten zu erleben. Nachher im Gasthaus „Tanne“ liegt die Chronik der Familie Hahn auf dem Tisch und die Augen von Bernhard Seger, der jüngere Bruder von Hans und ehemalige Bürgermeister von Schönau, weiten sich voller Ehrfurcht.  „Das ist ja ein Schatz!“ Lisette „Lisl“ Hahn, geborene Laule und erste Frau von Fritz Hahn,  schrieb sie in exzellenter Schönschrift, illustrierte sie mit Schwarz-Weiß-Fotos, malte bunte Anfangsbuchstaben und Ornamente dazu. Sie  hielt so den Stammbaum und den Lebensweg der Familie Hahn fest. Ein Dokument aus den glücklichen Tagen der Familie Hahn. Sein Jagdrevier braucht Fritz Hahn jedenfalls später als Balsam für seine Seele, um den Kummer zu bewältigen, der noch auf ihn zukommt.  Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges wurden die Gatter eines Wildgeheges bei Schluchsee geöffnet und die Rothirsche in die freie Wildbahn entlassen. Von dort kam der Kronenhirsch ins Revier nach Schönau und vor die Flinte von Fritz Hahn. Er beschert ihm damit das schönste Jagd-Erlebnis seines Lebens.
  
Aber das kann wohl nur der leidenschaftliche Jäger Hans Seger nachempfinden. An diesem Nachmittag dreht er in seinen rustikalen Waldarbeiter-Händen ein altes Foto hin und her, das seinen Vater mit gleichem Vornamen und Dackel Lumpi zeigt. „Auch der treue Hans und Lumpi gratulieren dir“ steht hinten drauf und ist in Altdeutscher Schrift an Fritz Hahn gerichtet. Es gibt keinen Tag, an dem Hans Seger nicht seine Runde durch den Wald dreht und nach dem Rechten sieht. Er will so lange jagen, wie er noch laufen kann.  Sein Vater erlegte im hohen Alter von 90 Jahren noch einen stattlichen Rehbock- mit demselben Gewehr, mit dem Jäger Hahn auf den Hirsch zielte und traf. Er sagt, er denkt noch jeden Tag an Fritz Hahn. Weil sich seine Seele noch überall in den Wäldern befindet? Bestimmt! Oder aber weil jede Stelle ihn an die gemeinsame Zeit mit ihm erinnert.  

Zwei Wände im Wohnzimmer von Hans Seger zieren Geweihe und Gehörne von Jagdtieren, dazu noch ausgestopfte Wildtiere. Das mag auf den ein oder anderen grausam wirken. Aber es schlummern eben in jedem Jäger zwei Seelen. Das des Waldhegers und das des Jägers. Und wenn Rehkitze als Waisen nach einem Verkehrsunfall großzuziehen sind, dann kommen sie im Haus von Hans Seger und seiner Frau Erika auch sofort unter. Sie hören auf menschliche Namen, wohnen bei den Segers im Garten, werden liebevoll groß gezogen und nachher wieder in die freie Wildbahn entlassen. Sie kommen dann anfangs noch regelmäßig, bis sie der tiefe Wald wieder für immer verschluckt.

Diese Ruhe des Waldes und seine strengen Gesetze faszinierten Fritz Hahn Zeit seines Lebens. Er galt als äußerst akurat aber gerecht – wissen die Menschen am Tisch noch ganz genau. Hans erinnert sich, dass einer seiner eigenen Dackel von zu Hause ausriss und mit einem anderen Hund zusammen ein Reh riss. Er beichtete  es Fritz Hahn und dieser verlangte von ihm, dass die beiden Hunde bis zum nächsten Wochenende nicht mehr leben. Denn ein wildernder Jagdhund würde immer wieder ausreißen und die Tiere des Waldes unkontrolliert töten. Der treue Hans tat, wie ihm befohlen. 

Er besitzt heute auch ein Gewehr, das Fritz Hahn einst zum 40-jährigen Dienstjubiläum von Dynamit Nobel erhalten hatte. Das „Büchsle“ ist heute noch bei ihm in Gebrauch und hoch geschätzt. Hans Seger schießt damit immer noch ziemlich genau, auch mit seinen 80 Jahren. So eine Büchse hält auch Fritz Hahn in der Hand, als er mit dem toten Rothirsch, waidmännisch geehrt mit einem Tannenzweig im Maul und seinem treuen Dackel „Lumpi“ fotografiert wird. Das Foto und sein Blick voller Stolz und Erstaunen zugleich drücken aus, was dieser Schuss für den passionierten Jäger in seinem 25. Jubiläumsjahr bedeutet hat.

Zuvor erlebt der Mann und seine Frau Lisette den schlimmsten Schmerz, den es gibt. Sie verlieren den erst achtjährigen Sohn Hans wegen Diphterie. Und danach zerbricht auch noch die Ehe mit Lisette. Sie wohnt 1937 kurzzeitig auch in dem gemieteten Stockwerk in Tunau, ganz in der Nähe ihrer Schwester Schosel, die mit dem Sonnen-Wirt in Schönau verheiratet ist. Lisette bleibt dort, bis sie ihrem neuen Mann nach Bitterfeld folgt. Rosemarie kommt mit 12 Jahren ins Internat der Zinzendorfschulen nach Königsfeld. Sie hängt sehr an ihrem Vater, aber nur in den Ferien kann sie zurück nach Rheinfelden und ihn besuchen. Fritz Hahn lernt später Laura Gerhardt kennen und heiratet sie. Mit ihr verbringt er seine letzten Lebensjahre in Rheinfelden. 1957 stirbt sie nach kurzer Krankheit unerwartet. 1958 verliert Fritz Hahn auch noch seine geliebte Jagd, weil sie zu dieser Zeit unter die Obhut des Schönauer Gemeinderates fällt. Und die kennen Fritz Hahn nicht, teilen das riesige Revier und vergeben es an Meistbietende. Ein Schuss in sein Herz. 1959 stirbt Fritz Hahn in Rheinfelden, ein Jahr vor der Geburt seiner Enkelinnen Sabine und Ulrike Przewolka.

Die Zwillinge lernen deshalb ihren Opa nie kennen. Nur im Keller-Regal liegt ein großes Hirschgeweih mit dem silbernen Schildchen dran. Eines Tages schleppen es die beiden über drei Kilometer in den Biologie-Unterricht, weil da gerade Rehe und Hirsche durchgenommen werden. Nachher muss der Sechzehnender noch drei Stockwerke hinunter getragen werden. Sabine stolpert und reißt sich an einem der Enden die Nase blutig. Es bleibt eine dicke Narbe zurück. Irgendwann verschenkt Rosemarie Przewolka das Hirschgeweih an eine befreundete Jäger-Familie in Westfalen. Der Sechzehnender hängt dort einige Jahre im Hauseingang. Aber Enkelin Sabine trauert diesem einzigen Andenken an ihren Opa hinterher. Bei einem Besuch in Westfalen fragt sie deshalb, ob sie das Geweih wieder haben könnte. Und so fährt das Hirschgeweih 500 Kilometer wieder zurück in den Schwarzwald und hängt seither an einem Ehrenplatz im Wohnzimmer.


Die Fahrt nach Tunau lässt die Geschichte um die Familie wieder Hahn aufleben und um den kapitalen Rothirsch. Jeder am Tisch steuert einen Bruchteil bei, an das er sich erinnert und so entsteht aus diesen vielen Puzzleteilen die ganze Geschichte – die Urenkel dabei ganz Ohr. Jeder am Tisch trägt dazu bei, dass am Ende ein Bild entsteht. Das Bild eines ganz besonderen Rothirsches, der auch 65 Jahre später noch die Menschen zutiefst bewegt.

Das Revier Tunau im Schwarzwald

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