Als ich vor 10 Jahren, im März 1998 nachfolgende Geschichte schrieb, gab es das JagdBlog noch nicht.
Auch wenn die Geschichte nichts mit der Jagd zu tun hat, so soll sie doch zeigen, dass wir, wenn wir in Einklang mit der Natur leben, Weitsicht und Verantwortung erlernen können. Bei einem Schäfer, der wie kein anderer Beruf, so direkt mit der Natur verbunden ist, kommt verantwortliches Handeln besonders zum Ausdruck. Obwohl ich die Geschichte bereits vor 10 Jahren schrieb, hat sie an Aktualität nichts verloren.
Spätsommertag
Ein Gleichnis besonderer Aktualität
Wie kein anderer ist der Schäfer auf das Miteinander mit der Natur angewiesen
Photo: www.schaeferhunde-zuechter.de
Irgendwo im Hochland eines großen Gebirgszuges führt Schäfer Jakob mit seinen Schafen und seinen Hunden ein idyllisches Dasein. Sein Tagesablauf ist ausschließlich von der Natur und ihren Einflüssen geprägt. Er folgt einem seit Jahrhunderten gleichen Zyklus der Jahreszeiten und all sein Tun ist geprägt vom momentanen Wetter und den uralten Erfahrungen seines Geschlechts der Hochlandschäfer.
Es ist Ende August, als Schäfer Jakob mit seinen Schafen eine der herrlichen Wiesen in den Hochlagen aufsucht. Er hat es sich, an einen schrägen Felsen lehnend, in fast liegender Haltung, bequem gemacht. Sein schwarzer Umhang dient ihm als Unterlage gegen den steinigen Untergrund. Seinen Hut hat er sich zum Schutz der tiefstehenden Sonne weit in die Stirn geschoben, ohne dass dadurch sein Blick über das herrliche Hochland getrübt wird. Es ist einer dieser Tage, an denen er das Gefühl hat, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Hochlandschäfer zu sein. Der Anblick der Schafherde, die friedlich an der Hangwiese grast, das sich vor ihm ausbreitende Tal und die spätsommerliche Sonne des Nachmittages geben ihm das Gefühl, mit der Natur eins zu sein. Weit unten am Ende des Tales liegt malerisch ein kleines Dorf. Die Bergwelt, die er von seinem Standort überblickt, wirkt paradiesisch und vertraut. Nichts weist darauf hin, dass sich an dieser Idylle irgend etwas ändern könnte.
Sein alter Leithund Ajax liegt neben ihm zu Füßen und genießt ebenso wie er den herrlichen Spätsommernachmittag, ohne jedoch die anderen Hunde und die Schafe auch nur eine Sekunde ohne Aufsicht zu lassen. Ständig wandert sein Blick über die Herde. Ab und an reckt er seine Nase in den Wind und nimmt aus der herangetragenen Brise einen tiefen Zug und überprüft ihn nach den verschiedenen Gerüchen. Sein erhöhter Standort neben Schäfer Jakob ist für seine Oberaufsicht geradezu ideal. Ajax weiß, dass Schäfer Jakob sich auf ihn verlassen kann. Niemals würde er ihn im Stich lassen oder einem Wunsch nicht nachkommen. Durch seinen uralten Instinkt weiß er, daß seine Existenz unmittelbar mit dem Fortbestand der Herde verbunden ist. Ein Versagen seinerseits hätte für ihn und die gesamte Herde fatale oder gar tödliche Folgen. Ajax kennt alle Pässe im Hochland, bei denen die unerfahrenen Schafe abstürzen können. Er weiß die erhöhten Gefahren, wenn die Schafe die Lämmer zur Welt bringen, um die Schwäche junger Lämmer. Er weiß genau, wohin und mit welchem Tempo die Herde getrieben werden muß, wenn Schäfer Jakob die Richtung vorgibt. Noch nie ist ein Schaf verlorengegangen, seitdem er Leithund ist, und er weiß, dass sein Herr ihm den Verlust auch nur eines Schafes niemals verzeihen würde.
Durch sein Alter und seine enge Verbindung zu Schäfer Jakob kann er die meisten Wünsche seines Herrn erahnen. Es sind nur Handzeichen oder kurze Kommandos, die Ajax genau zu deuten weiß, um Schäfer Jakobs Wünsche und Befehle sofort in die Tat umzusetzen.
Die Treue seines Leithundes Ajax gibt Schäfer Jakob Sicherheit und Ruhe.
Verträumt wandert sein Blick über die Gipfel des Hochlandes. Beim Anblick der paradiesischen Schönheit der Bergwelt überkommt ihn immer dieses Glücksgefühl, als gesunder Mensch diesen Anblick unberührter Natur erleben zu dürfen.
Bei seinen Gedanken über den Sinn des Lebens bleibt sein Blick auf den Wipfeln einer Baumgruppe liegen. Unbewusst fixiert sein Blick immer wieder die Spitzen der Bäume. Plötzlich durchfährt sein Körper ein Schauer, und Schäfer Jakob wird jäh aus seinen Träumen gerissen. Die obersten Bäume haben eine leichte Braunfärbung.
Schäfer Jakob erhebt sich aus seiner liegenden Position, setzt sich aufrecht hin und rückt sich seinen Hut zurecht.
Wie hypnotisiert betrachtet er die Erscheinung. Sofort erscheint ihm sein Vater in der Erinnerung, als sei es gestern gewesen, wie er immer vor ihm stand und ihm mit erhobenem Zeigefinger alte Weisheiten seiner Vorfahren weitergab: “Jakob, bedenke, wenn die Bäume in den Hochlagen schon Ende August braun werden, kommt der Winter schon früh im Oktober!”. Als junger Schäfer hatte er immer über die Weisheiten seines alten Vater gelächelt, aber so nach und nach hat er immer mehr Vertrauen in diese Überlieferungen bekommen. Besonders wenn ihm ein Fehler unterlief, wurde er immer wieder an die Ermahnungen seines Vaters erinnert.
Als sein Blick über die Schafherde schweift, wird er wieder in die Bergidylle integriert. Der Anblick der Schafe, der Hunde und der Bergwelt sind immer noch so malerisch und ungetrübt wie vorher. Keiner erkennt oder deutet die Zeichen oben auf den Wipfeln der Bäume! Warum auch, denkt Schäfer Jakob, es sind nur Schafe, sie sollen fressen und viel Wolle geben. Die Hunde haben zu wachen und zu führen. Es ist nicht ihre Aufgabe, Zeichen zu sehen und zu deuten.
Seine Gedanken über die Aufgaben der Mitglieder seiner Gemeinschaft werden sanft von Leithund Ajax unterbrochen. Seine nasse Nase fährt in seine halbgeschlossene Hand und schubst sie leicht nach oben. Als Schäfer Jakob seien Blick auf Ajax richtet, schaut er in seine treuen Augen, die erwartungsvoll zu ihm aufsehen. Die Ohren sind gespitzt und als Ajax bemerkt, dass Schäfer Jakob reagiert, geht sein Schwanz leicht hin und her. Ajax hat bemerkt, daß die Sonne sich dem Horizont nähert und Ajax mahnt zur Eile, denn es ist noch gut eine Stunde bis zum Pferch und der Hütte. “Ach, wenn ich dich nicht hätte, Ajax, ohne dich wäre ich verloren.” murmelt Schäfer Jakob.
Auf das übliche Kommando jagt Ajax den Hang hinunter zur Herde. Sein zweimaliges helles “jiff jiff” zeigt seine Freude über den Aufbruch und die baldige Ankunft zu Hause, wo Fressen und sein Nachtlager auf ihn warten. Im Nu ist die Herde in Bewegung, die anderen Hunde beobachten ihren Leithund genau, und nach kurzer Zeit wissen sie, was Ajax will. Wie von Geisterhand bewegt sich die Herde zügig in die Richtung, die Ajax wünscht. Er kennt den Weg nach Hause genau, auch ohne die Führung des Schäfers Jakob.
Immer wieder läuft Ajax zwischen der Herde und seinem gedankenverlorenen Schäfer Jakob hin und her. Ajax mag es überhaupt nicht, wenn sich jemand von der Herde entfernt, auch nicht Schäfer Jakob. Er mahnt Schäfer Jakob zur Eile, denn bald ist es dunkel, und er weiß, wie gefährlich es ist, die Schafe durch die Berge bei Nacht zu treiben. Aber Schäfer Jakob ist mit den Gedanken immer noch bei der Mahnung seines Vaters: “Jakob, bedenke, wenn die Bäume in den Hochlagen schon Ende August braun werden, kommt der Winter schon früh im Oktober!”.
Seine Stirn liegt in tiefen Falten. Immer wieder bleibt er stehen und schaut in den Himmel. Bohrende Fragen quälen ihn. Viele Lämmer sind spät geboren. Sie sind groß geworden durch die saftigen Wiesen, aber den Winterspeck, den sie brauchen, bekommen sie erst in der Eichel- und Bucheckernmast im Oktober. Aber wenn sie jedoch vom Schnee überrascht werden, verliert er die ganze Herde. Im Schnee wird es kaum ein Schaf bis ins Unterland schaffen. Der Marsch von einer Woche ohne Futter im tiefen Schnee würde keines der Lämmer überleben und die Alttiere würden stark geschwächt.
Über diesen Gedanken grübelnd, erscheint vor ihm im letzten Licht der Dämmerung seine Hütte und der Pferch. Als er sie erreicht, ist Ajax schon fertig. Die Schafe sind in der Gatterung, und die Hunde sitzen artig vor dem noch offenen Tor.
Doch erst als Schäfer Jakob es sorgfältig geschlossen hat, stürmen sie zur Hütte. Jetzt ist das Gattertor verriegelt und ihre Arbeit für heute erledigt. Winselnd und schwanzwedelnd stehen sie am Schuppen, denn dort ist ihr Futter. Als Schäfer Jakob gedankenverloren das Futter aufteilt, und die Hunde vor Ungeduld an ihm hochspringen, sitzt Ajax gespannt und aufmerksam abseits. Er weiß, daß er als letzter seine Portion bekommt. Aber er weiß auch, daß es immer ein etwas besseres Stück Fleisch ist!!
Schäfer Jakob, der immer gut und schnell schläft, wälzt sich diese Nacht von einer Seite auf die andere. Viele Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Als er schon spät in der Nacht auf seiner Bettkante sitzt und mit Pfeiferauchen versucht, die Gedanken zu vertreiben, betrachtet er die Hunde, die, wie jede Nacht, auf der Seite liegend, mit ausgestreckten Läufen, tief schlafen. Ab und an bewegen sie ruckartig die Glieder, woran er erkennt, daß sie im tiefen Schlaf träumen. Ach, was haben die es gut! Sie haben keine Verantwortung zu tragen und immer einen ruhigen Schlaf. Es ist weit nach Mitternacht, bis Schäfer Jakob seinen wohlverdienten Schlaf findet.
Sein Schlaf ist auch tief aber ohne Traum.
Es ist schon Mitte September und der Herbst klopft unübersehbar an die Pforte. Die Tage werden merklich kürzer und kälter. Morgens liegt tiefer Nebel in den Tälern, und bis er sich aufgelöst hat, ist meist die Mittagszeit schon vorüber. Immer häufiger muss Schäfer Jakob die Wiesen wechseln, um noch ertragreiche Weidegründe zu finden. Der Tagesablauf ist geprägt vom ständigen Wechsel des Umherziehens und des Fressens. Auch Ajax und seine Helfer haben nur wenig Zeit der Ruhe. Ständig muss die Herde zusammengehalten werden, da die Tiere immer wieder versuchen, sich von der Herde zu entfernen, um außerhalb nach Gras zu suchen. Schnell geht hierbei ein unerfahrenes Lamm verloren oder es stürzt in eine Gebirgsschlucht, wo es nicht geborgen werden kann. Durch die kurzen Tage erreichen sie den Pferch erst sehr spät. Das Treiben der Herde in der Dämmerung fordert äußerste Aufmerksamkeit. Aber auf Ajax ist Verlaß. Immer wieder muss er den anderen Hunden zu Hilfe kommen, wenn sie der Sache nicht mehr gewachsen sind. Immer hält sich Ajax an den Schwachstellen der Herde auf, an den steilen Hängen oder da, wo die Gefahr des Verlustes eines der Tiere am größten ist. Der schwieriger werdende Tagesablauf nimmt auch Schäfer Jakob voll in Anspruch. Die Zeichen der braungefärbten Bäume im August hat er nicht verdrängt, er ist seitdem auf der Hut. Viel häufiger als sonst beobachtet er Wind, Wolken, Tiere und Pflanzen, um die Zeichen eines frühen Winters bestätigt zu bekommen. Aber trotz aller Aufmerksamkeit deutet nichts darauf hin, dass er die Berge vorzeitig verlassen muss.
Als er am Abend wieder einmal das Gatter schließt und die Hunde erwartungsvoll auf ihr Futter warten, schaut er noch ein letztes Mal an diesem Tage zum Himmel. Schon will er sich den bettelnden Hunden zuwenden, als er am Horizont eine große Anzahl von Krähen wahrnimmt. Wie schwarze Lumpen wirken sie, die sich ziellos mit dem stürmischen Herbstwind über die Berggipfel treiben lassen. Und wieder durchfährt dieser Ruck seinen Körper. Wieder erscheint schemenhaft das Bild seines Vaters vor ihm. Wieder sieht er den Zeigefinger seines Vaters gehoben und mahnt:“Jakob, wenn sich die Krähen zu Scharen sammeln, sind es noch 14 Tage bis zum ersten großen Schnee!”
Lange schaut er den Krähen nach, fast als ob er noch nie einen solchen Schwarm Krähen gesehen hätte. Erst der wilde Sprung eines seiner jungen Hunde an seine Brust reißt ihn aus seinen Gedanken. Die Hunde haben Hunger und können überhaupt nicht verstehen, warum ihr Herr diesen Krähen nachsieht, zumal man diese hässlichen Tiere weder fangen noch fressen kann, denn ihr Geschmack ist grässlich.
Während er, wie jeden Abend, die Hunde füttert, fasst er den unumstößlichen Beschluss, noch nächste Woche den mühsamen Abstieg ins Unterland anzutreten. Die schwachen Lämmer wird er sofort nach Ankunft im Tal verkaufen müssen. Die starken und älteren Tiere wird er schon irgendwie ohne die Herbstmast durchbringen.
Als Schäfer Jakob nach dem Essen seine Pfeife raucht, überkommt in die Müdigkeit eines arbeitsreichen Tages. Kaum im Bett liegend, fällt er in einen Tiefschlaf, wie er ihn seit mehreren Wochen nicht erfahren hat.
Der Abstieg ist, wie jedes Jahr, mühsam und schwierig, aber Ajax, die anderen Hunde und Schäfer Jakob sind eine unschlagbare Gemeinschaft. Auch das Anlernen der Junghunde hat in diesem Jahr große Fortschritte gemacht. Nächstes Jahr sind sie voll ausgebildet und in die Gemeinschaft integriert.
Direkt nach der Ankunft im Unterland hat Schäfer Jakob fast ein Drittel seiner diesjährigen Lämmer verkauft. Es schmerzte Schäfer Jakob sehr, aber die Umstände machten es notwendig.
Als Mitte Oktober Schäfer Jakob seine kleine Herde auf den kargen Stoppelfeldern des Unterlandes weiden läßt, steht er, auf seinen großen Schäferstock gestützt, etwas abseits seiner Herde. Sein Blick schweift über die tiefverschneiten Berge, und sein faltiges, wettergegerbtes Gesicht zeigt ein leichtes Lächeln. Als er zur Herde schaut, fällt sein Blick auf Ajax, der sitzend die Herde beobachtet, wie er es immer tut. Auch seine Nase reckt er wie immer in den Wind, um tief die Witterung einzusaugen und die verschiedenen Gerüche zu prüfen. Als aber Ajax versucht, sich aufzustellen, um der weiterziehenden Herde zu folgen, bemerkt Schäfer Jakob, dass Ajax das Aufrichten sichtlich schwer fällt. Nur mühsam findet Ajax beim Aufstehen Halt auf den Hinterläufen. Es ist die Kälte, die seinen alten Knochen zu schaffen macht. Das eben noch zufriedene Lächeln des Schäfers Jakob legt sich wieder in tiefe Falten. Seine Erfahrung sagt ihm, dass dies Ajax‘ letzter Winter ist. Schon im nächsten Jahr wird Ajax den Abstieg im Herbst nicht mehr durchstehen. Er würde durch seine Behinderung die ganze Herde aufhalten und gefährden. Den herrlichen Spätsommer soll er noch auf den Bergen erleben. Dann wird Schäfer Jakob seinen Ajax hinter der Hütte beerdigen müssen, eingeschlagen in seinem alten Umhang. So wie es sein Vater schon tat und so, wie es alle seine Vorfahren taten.
Schäfer Jakobs Blick schweift über die Herde zu den anderen Hunden. Sein Blick bleibt auf Bosko liegen, dem fünfjährigen Rüden. Mit seiner Statur und seinem glänzenden Fell strotzt er vor jugendlicher Kraft. Das raue Herbstwetter scheint ihm nichts auszumachen. Er ist von Ajax gut ausgebildet worden. Schon frühzeitig hatte Schäfer Jakob dafür gesorgt, dass Ajax einen treuen Nachfolger bekommt. Sein Blick wird wieder etwas zufriedener, auch wenn er nicht gern an den nahenden Abschied von Ajax denken mag.
Aber als er sich seine Herde besieht, stellt er fest, dass sich keines der Schafe und kein Hund diese Gedanken und Sorgen machen muss, denn die Verantwortung für alle trägt er allein.
An diesem Tage erscheint in der Zeitung eine Kurzmeldung: ”Verfrühter Wintereinbruch überraschte die Hochlandschäfer in den Bergen. Fast alle Schafherden kamen in den Hochlagen im Tiefschnee um. Nur ein Schäfer erreichte unversehrt das Unterland.”
In einer anderen Tageszeitung erscheint ein Leserbrief eines alten Unternehmers: “In Deutschland fehlen 1.5 Mio Unternehmer. Deutschland braucht wieder Menschen mit Weitblick und Erfahrungen, die bereit sind, die alleinige Verantwortung zu übernehmen. Diese Menschen müssen bereit sein, auch harte Entscheidungen zu treffen, um das Überleben unserer Gesellschaft zu sichern.” Der Leserbrief erschien, ohne Beachtung zu finden, in einer Zeitung irgendwo in Deutschland. Alle Leser genossen einen dieser herrlichen Spätsommertage...
Zwingenberg, im März des Jahres 1998
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